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Ist Realismus als Kunstrichtung zeitgemäß?

Immer wieder hört man in Diskussionen über zeitgenössische Kunst, daß die realistische Malerei obsolet geworden sei, da heute das Medium der Fotografie zur Verfügung stehe. Wenn man die realistische Darstellung alleine und ausschließlich als Abbildung des “So-Seins” auffaßt, hat diese Aussage eine gewisse Berechtigung, wenngleich man auch mit der Fotografie recht geläufig interpretieren – oder sogar: lügen – kann. Aber der Künstler ist mitnichten ein Berichterstatter, der eine Darstellung eines gewissen Tatbestandes vor Augen führt. Jede realistische Darstellung ist bereits eine Interpretation des Vorgefundenen, soferne sie sich darauf beschränkt, nur das wiederzugeben, was vor den Augen nach dem consensus gentium aller sichtbar ist. Nun gibt es in der realistischen Malerei zwei Hauptrichtungen, die jede für sich gesehen ihre volle Berechtigung haben. Die eine Auffassung bildet den Zustand des allseits Sichtbaren ab – das ist der «Ist-Zustand». Die andere Strömung aber zeigt nicht die momentane Befindlichkeit, sondern ist idealistisch gestimmt und zeigt einen «Soll-Zustand». Selbst mit der nichtidealistischen Auffassung kann man larviert auf den «Soll-Zustand» hindeuten, indem man Mängel oder gar schlimmeres zeigt. Diese Darstellungsweise war zum Beispiel bei den russischen Realisten des 19. Jahrhunderts sehr verbreitet. Und doch haben auch diese Kritiker des «Ist-Zustandes» immer wieder den «Soll-Zustand» angedeutet oder aber sogar eingewoben. Das kann die Fotografie, soferne sie nur ein Dokument darstellt, nicht. Man wird gerade heute im Zeitalter der digitalen Technik einwenden, daß die Fotografie dies sehr wohl könne. Dem allerdings ist ohne Manipulation keineswegs so. Fotografie, die sich der Manipulation des Bildes bedient, zeigt allerdings nicht den tatsächlichen Zustand und macht sich damit schuldig, nicht mehr ein realistisches Abbild des tatsächlich Vorgefundenen zu liefern. Der idealistische Künstler hingegen will gar nicht die momentane Situation und Befindlichkeit darstellen, sondern möchte einen Beitrag dazu liefern, zumindest darüber nachzudenken, wie ein möglicher, idealer Zustand erreicht werden könnte. Es ist ein Denkanstoß, den der Künstler geben möchte. Das Denken allerdings kann, soll und darf er dem Betrachter nicht abnehmen. Der Betrachter des Kunstwerkes – wenn man hier die Erweiterung der realistischen Darstellung verwenden will, da ja nicht nur Bilder realistische Darstellungen sein können – kann nun das Kunstwerk mit wohlwollendem Lächeln betrachten und dann zur Tagesordnung übergehen. Hat der Künstler damit seinen Zweck der Darstellung verfehlt ? Mitnichten ! Der Betrachter ist selbst für sein Verhalten verantwortlich. Der Künstler kann nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn der «Konsument» keinerlei Interesse und keine Reaktion zeigt. Vielmehr ist es eine traurige Begleiterscheinung der heutigen Reizüberflutung, daß realistische Darstellungen keine oder nur mehr geringe Reaktionen hervorrufen. Infolge gewisser Marketingstrategien sind realistische Darstellungen heute in die Schublade “ewig gestrig” verbannt worden. Marketing aber war, wie sich leicht nachweisen läßt, noch nie günstig für Kunstwerke, welche die Menschen zum Nachdenken anregten. Man braucht in der Geschichte nur etwa 100 Jahre zurückblicken. Als der «Jugendstil» zur Marketingstrategie verkommen war, hatte damit auch schon seine Todesstunde geschlagen. Das Denken war hintangestellt worden – alles war rein zum dekorativen Markenartikel verkommen. Was der Jugendstil wirklich ausdrücken wollte, das war unter die Räder gekommen. Auch anderen Kunstrichtungen ist es in der Geschichte nicht anders ergangen. Hier sei nur der Impressionismus erwähnt und danach der Expressionismus. Die Kunst driftete immer mehr ab von ihrem eigentlichen Anliegen. Danach kam durch verschiedentliche Konstellationen – unter anderem auch durch das sensationsgierige Interesse an Psychoanalyse und sonstigen politischen und psychologischen Zeiterscheinungen – eine totale Abkehr von der gegenständlichen und damit auch von der realistischen Darstellungsweise in der Kunst. Nicht, weil es den Künstlern ein so großes Anliegen gewesen wäre ! Sondern schlichtweg aus Gründen des Marketings. Dennoch hat die realistische Kunst weiterhin überlebt. Sie war zwar nicht mehr an dominanter Stelle im Kunstmarkt zu finden, aber sie hatte weiterhin ihre Liebhaber und Sammler. Realistische Kunst per politischem Dekret zur einzig tolerierten Kunstrichtung zu erklären, ist ebenso eine Ungeheuerlichkeit wie der Marketingtrick, sie zur banalen Pinselei zu erklären. Die nichtgegenständliche Kunst mag ebenso ihre Berechtigung haben wie die realistische. Sie aber zur einzig wahren Kunst erklären zu wollen, ist ebenso unzulässig wie das Gegenteil. «Kunst» kommt nach wie vor von «Können». Und damit gerät die nichtgegenständliche Kunst in zwielichtige Bereiche. Wer vermag es zu beurteilen, ob ein Bild, das nichts Gegenständliches zeigt, mit Können gemalt ist ? Solch ein Bild mag vielleicht Assoziationen und Emotionen hervorrufen – aber damit ist die Grenze zur Beliebigkeit und zum ausschließlich Dekorativen überschritten. Es bleibt dabei unbenommen, ob man seine Wände mit kitschigen Kunstdrucken oder mit Belanglosigkeiten von sogenannten arrivierten, nichtgegenständlichen Malern dekoriert. Gleichwohl ist es nur Dekoration, die man wahrnehmen kann – oder die man aus Gründen der Reizüberflutung schlichtweg aus der Wahrnehmung ausblendet – soferne nicht gerade ein Machwerk, welches das Empfinden (nach dem consensus gentium) verletzt, vorliegt. Manches Bild wurde nur geschaffen, um den Schmerz in der eigenen Seele auszudrücken oder aber sich von diesem zu befreien. Das ist absolut legitim. Tritt nun bei diesem Bild eine gewisse Könnerschaft zu Tage, dann ist es sehr wohl als Kunst anzusprechen – man denke hier nur an Goya. Verfertigt allerdings ein psychisch erkrankter Mensch ohne dieses handwerkliche Können aus den genannten Gründen (Ausdruck des Schmerzes, der Angst, der Aggression, der Obsession, etc.) ein Bild, so darf bezweifelt werden, daß es sich hierbei um Kunst handelt. Niemand würde es Kunst nennen wollen, wenn ein Mensch in der exacerbativen Phase einer Psychose einen Stuhl zertrümmert. Tut das allerdings ein sogenannter arrivierter Künstler, so wird das oftmals aus marketingstrategischen Gründen zu einem Kunstwerk stilisiert. Doch genug von diesen verkaufsfördernden Tricks, genug von krankhaften Erscheinungen (so traurig diese auch stimmen mögen) – zurück zu den Entwicklungen der Kunst in den letzten 50 Jahren.
In der marxistischen Welt wurde schon seit den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts der sogenannte «Marxistische Realismus» als einzige gültige und annehmbare Kunstrichtung vom Staat vorgeschrieben – die «Blut- und Bodenmalerei» des Dritten Reiches war im Prinzip ebenso eine Verordnung von staatlicher Seite, die man genauso gut oder verwerflich finden kann – und das führte zu Gegenbewegungen. Jegliche kulturelle Verordnung “von oben” fordert geradezu zur Ablehnung, ja sogar zur Auflehnung dagegen heraus. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Heute schreibt nicht der Staat vor, welche Kunst gemacht werden müsse, sondern die Marketingtricks der Kunsthändler. Der consensus populorum bezüglich der Kunst wird nicht durch echte Übereinstimmung der Völker erreicht, sondern heute ist es die Indoktrination durch den Handel und natürlich dessen Handlanger (Kunstkritiker und die Medien), die diesen consensus scheinbar hervorgebracht hat. Es gibt hier keinen Konsens – es hat ihn nie tatsächlich gegeben. Um nicht als «ewig gestrig» zu gelten, befinden so manche Kunstsammler alles, was durch Medien und Kritiker als «großartige Kunst» hoch gelobt wird, als gute Kunst – ganz gegen ihre wirkliche Meinung. Nach dem zweiten Weltkrieg also malte man aus Auflehnung und Ablehnung der Staatskünste nicht-gegenständlich. Das war durchaus verständlich. Aber aus den oben erwähnten Gründen wurde diese Gegenbewegung zur Doktrin erhoben. Bis schließlich das Pendel in die andere Richtung ausschwang. Der erste erfolgreiche Gegenschlag gegen die Vorherrschaft der nicht-gegenständlichen Kunst war der Phantastische Realismus (Wiener Schule). Er konnte sich durchaus gegen die anderen gleichzeitigen Stilrichtungen durchsetzten – aber er wurde ebenso zu einer Modeerscheinung wie viele andere «ismen». Dennoch gab und gibt es immer noch Maler, die mit ihren durchaus realistischen Bildern erzählen. Vorsichtig geworden durch diese vielen «ismen» hat sich die Bezeichnung “Narrativismus” zwar für diese Bewegung durchgesetzt – aber niemand ist mit der Bezeichnung recht glücklich. Das ist vielleicht auch einer der Gründe, weshalb diese Richtung in Europa noch relativ unbekannt ist. Der von gewissen Kunsthändlern beherrschte Markt tut sein Übriges dazu. Es gibt sie aber, die Künstler, die unverdrossen mit ihren Bildern erzählen. Diese Bilder werden inzwischen auch von Sammlern begehrt – und man wagt wieder solche Bilder als das zu sehen, was sie meistens sind : gute Kunst.
Auch ich kam vom «Informel» her – der damals hoch gelobten “einzig wahren Kunst”. Doch in mir machte sich mit der Zeit ein Unbehagen breit – das was ich mit den Bildern sagen oder erzählen wollte, konnte mit dieser Art von Kunst keineswegs transportiert werden. An dieser Stelle sei mir gestattet, daß ich ein wenig in die Tiefe gehe. Edgar A. Poe schreibt : «Kunst ist die Wiedergabe dessen, was die Sinne in der Natur durch den Schleier der Seele erkennen können.»
Lucius Anneus Seneca schreibt : « Alle Kunst ist Nachahmung der Natur.»
Für große Künstler wie diese beiden, die ich ganz willkürlich aus der großen Zahl von Künstlern herausgegriffen habe, welche sich zur Kunst äußern, scheint es völlig selbstverständlich zu sein, daß das große Vorbild für den Künstler die Natur ist. Mit anderen Worten könnte man sagen, daß für Künstler immer gelten solle, daß der Gegenstand, die Realität nicht nur abbildungswürdig ist, sondern auch die Vorlage für phantastische Gebilde liefert, die in der Natur so nicht vorhanden sind – ich denke hier an Hieronymus Bosch, Breughel, Ernst Fuchs, etc. Es ist nicht nur einfacher von der Natur ausgehend, Gebilde zu schaffen, die dergestalt in der Realität nicht vorkommen, sondern vielmehr ist damit eine leichtere Lesbarkeit des Symbols gegeben. Symbole sind per se mehrschichtig. Für die Deutung von Symbolen aber muß eine gewisse Erkennbarkeit und Lesbarkeit gegeben sein, da sie ansonsten an ihrem Ziel vorbeigeraten. Sagen wir es einfacher : ein Bild muß immer eine gewisse Lesbarkeit aufweisen, weil es sonst seinen Zweck verfehlt. Es ist in keiner Weise einzusehen, etwas ein Kunstwerk nennen zu müssen, wenn es seinen Zweck – die Lesbarkeit für den Betrachter – verfehlt hat oder gar verweigert. Das kann man dann entweder nur Dekoration nennen, im schlimmeren Fall aber Scharlatanerie. Dennoch habe ich hier ein gewisses handwerkliches Können vorausgesetzt, das allerdings heute immer seltener gegeben ist. Betrachtet man die Theorien über Kunst im Zen (vor allem in Japan), so wird unmißverständlich klar, daß der Künstler das Kunstwerk nicht erschafft, sondern schöpft. Das will heißen, daß er es nicht schaffen kann, sondern nur ausführt – aus dem präexistenten ihn von allen Seiten umgebenden Universalbewußtsein gewissermaßen herausschöpft wie man Wasser aus einem Brunnen schöpft. Ganz deutlich wird das in der Dichtkunst der Japaner (vor allem beim Haiku) : nicht Basho, Issa oder Buson dichten “es”, sondern “es” dichtet – verdichtet sich, um dann ins Bewußtsein besagter Dichter zuerst als eine Imago aufzusteigen und dann in Worten von ihnen gegeben zu werden, was da aus dem Höheren Bewußtsein (C. G. Jungs «Unbewußtes») angedrungen war. Das “Suchen nach dem Ausdruck” ist vor allem im Westen des 19. und 20. Jahrhunderts an die Stelle des Kunstwerkes, des Verdichteten getreten. Überspitzt formuliert kann man sagen, daß es kein Kunstwerk sei, sondern ein künstliches Werk. Viele der asiatischen Dichter waren auch Maler – man nennt sie auch die «Literatenmaler». Diese hatten nicht nur eine gediegene Ausbildung, was die Sprache betrifft (sie waren ungemein belesen !), sondern hatten auch ein handwerkliches Rüstzeug für das bildnerische Schaffen mitbekommen. Ohne dieses Rüstzeug wäre es ihnen völlig unmöglich gewesen das, was da als Imago in ihnen aufstieg mit ihren Pinseln in oft nur wenigen Strichen auf dem Papier wiederzugeben. Diese wenigen Striche aber erzählen ganze Geschichten… Die Japaner haben den Ausdruck «sein Gemüt vertiefen». Dieser kommt oft im Zusammenhang mit der “Mondschau” vor. In Japan liebte man (und liebt noch immer) den Vollmond zu betrachten – allerdings einen Tag nach dem eigentlichen Vollmond, weil das ganz besondere Qualitäten birgt. Man geht also wiederum von der Natur aus. Und hier schließt sich der Kreis : alle großen Künstler des Westens gingen vorerst von der Natur aus. Sie war – und ist – die große Lehrmeisterin. Die großen bleibenden Kunstwerke werden immer mit entsprechendem handwerklichem Können von der Natur ausgehend geschaffen. Dabei bleibt es dem einzelnen Künstler unbenommen, ob er sich selbst an der Natur schult (also ein Autodidakt ist) oder ob er das an Hand der Führung durch einen Meister tut. Ein großer Künstler entwickelt sich stetig weiter – nie wird er rasten und ruhen, bis er mit seinem Bild das sagen kann, was er sagen will. Und damit hat sich wieder ein Kreis geschlossen : der Künstler schöpft aus dem Brunnen des Höheren Bewußtseins. In ihm war eine Imago aufgestiegen und hatte sich so sehr verdichtet, daß er es sagen will – vieles kann aber nicht mit Worten gesagt werden, sondern bedarf des Bildes. Ein gutes Bild aber bedarf nicht langatmiger Erklärungen – es ist per se lesbar. Ob dabei der Betrachter alles lesen kann, was der Künstler ihm vor Augen führt, das ist eine andere Sache. Wenn das Bild aber in jeder Hinsicht «unlesbar» ist, weil es nur aus wirren Strichen und Farbklecksen besteht, dann ist es an seinem Sinn vorbeigegangen und hat den Betrachter nicht erreicht. Ein wirkliches Kunstwerk erreicht aber den Betrachter immer… 

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